Mittwoch, 30. September 2015

Entflohene und die wiedergefundene Zeit

Am Sonntag waren 120 Flüchtlinge aus dem Asyl-Quartier in Wien-Schwechat zu Gast im Kunstforum Wien. Menschen, die permanent der Ungewissheit ins Auge schauen, hatten mal kurz Zeit um durchzuatmen.

(c) Alistair Fuller

Was hat Marcel Proust jetzt aber mit der Aktion zu tun? Naja. Der Franzose beschreibt in seinem Romanzyklus den Vorgang des Sich-Erinnerns und arbeitet sich am Phänomen der Zeit ab. 
Wer sich am Haupt- bzw. Westbahnhof  oder den Sachspenden-Sammelstellen mit den freiwilligen Helfern unterhält, dem wird eines schnell klar: Die gespendete Zeit – sei es, um mit den Kindern zu spielen oder im Gespräch mit den Jugendlichen und Erwachsenen deren Problemen offene Ohren zu schenken – ist ein wichtiges, soziales Schmiermittel. Ohne Verständnis, Empathie und Einfühlungsvermögen sind Herausforderungen, wie die derzeitige, schier nicht zu bewältigen.

(c) Alistair Fuller

Das erkannte auch das Kunstforum Wien und entschied sich dafür, Kindern ein bisschen die Langeweile zu nehmen und Erwachsenen – zumindest für ein paar Stunden – den freien Blick auf die Sorgen zu verstellen. Da im Haus zwar entsprechendes kunsthistorisches Know-How vorhanden ist, sich die Expertise bezüglich Flüchtlingsthematik aber auf die allgemeinen, öffentlich zugänglichen Informationen beschränkte, entschied man sich, gemeinsame Sache mit den Kinderfreunden Österreichs – einem erfahrenen Partner – zu machen.
Die Interessenvertretung betreibt unter anderem in Traiskirchen ein wöchentlich-rollierendes Unterhaltungsangebot für Kinder und Erwachsene, nutzt die Parkgarage am Westbahnhof für unterstützende Tätigkeiten zwischen und ist einfach generell ein potenter Wissensträger, wenn es darum geht, Kindern eine gute Zeit zu bereiten.

(c) Alistair Fuller

(c) Alistair Fuller

Die größte Anziehungskraft übte dann aber doch erst mal das Buffet aus. Mit dem Hunger verschwand dann auch die Schüchternheit. An den aufgebauten Stationen wurden Buttons gebastelt, gezeichnet, Körper bemalt und Drucke fabriziert. Die derzeit ausgestellten, knallig-bunten Fix- und Foxi Tableaus an den Wänden bestellten eine Szenerie, die passender nicht sein hätte können und erleichterten den Kids den Umbau des Museums Richtung Spielwiese. 

Erklärtes Beschäftigungshighlight fand sich dann in einem zweckentfremdeten Rollcontainer, in dem sich die Kids durch die Ausstellungsräume gondelten.
Als die ersten Findigen dann noch den Beschallungs-Laptop entdeckten, verwandelte sich das Haus endgültig in eine große Youtube-Party. Anstatt des Potemkinschen Dorfes, das nur der eigenen Nabelschau dient, pflasterte man im Kunstforum Wien also lieber ein Fundament aus Zwischenmenschlichkeiten.

(c) Alistair Fuller

Diese kurzen Momente versuchten viele auf eben jenen Geräten festzuhalten, die Ihnen die Flucht erst ermöglicht hatten. Auch mit mir wurden Selfies gemacht. Im anschließenden Gespräch erklärte mir einer der Teenager, er sei froh um das Entlastungsventil Schwechat – in Traiskirchen sei es aufgrund der Masse an Menschen schwierig. Derzeit konzentriere er sich darauf, Deutsch zu lernen. Wir witzelten noch ein wenig über seine Deutsch-Kostproben bevor er sich verabschiedete um noch eines der mit Straßenkreiden und Malbüchern gefüllten Abschieds-Sackerln abzugreifen.

(c) Alistair Fuller

Nachdem sich alle gegenseitig bedankten und daran machten, im Gänsemarsch das Kunstforum zu verlassen, scherte beiläufig ein ca. 16-Jähriger aus der Reihe und schenkte einem der Übersetzer sein aus Papier gebasteltes Häuschen. Der bedankte sich – sichtlich gerührt von der Geste – bevor sie ein letztes mal einklatschten und anschließend ihre Nummern austauschten.

(c) Alistair Fuller


Zeitungen und Newsfeeds überschütten uns derzeit mit beängstigenden Meldungen. Traurig auch, dass dieses Spiel mit der Furcht der Menschen anscheinend bereits erfolgreich instrumentalisiert wird. Dabei besteht der vielversprechendste Zugang zur Bewältigung von Ängsten wohl darin, sie zuzulassen und sich ihnen zu stellen. 
Emotionen gab es Sonntags im Kunstforum Wien viele. Eine konnte ich jedoch nicht erspüren: Angst.


(c) Alistair Fuller

Der Eingangs erwähnte Zyklus Prousts endet mit den zwei Romanbänden im Titel. Die Geschichte der Kinder, die da zu uns kommen, hat soeben erst begonnen.


Die Aktion wurde mit freundlicher Unterstützung der Bank Austria ermöglicht.

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